Ursula ist die Assistentin eines KMU-Geschäftsführers. Ich kenne Ursula nicht persönlich, aber jeweils am Mittwochvormittag hüte ich meine beiden kleinen Kinder und gehe mit Ihnen „go zmörgele“. Ursula und ihre Kollegin sind manchmal zur gleichen Zeit am gleichen Ort und sitzen jeweils in Hörweite.
Ursula war seit einigen Wochen unzufrieden mit ihrem Arbeitgeber, sie musste sich gemäss eigener Einschätzung um alles und jeden kümmern, ohne internen Support, ohne Unterstützung des Geschäftsführers, ohne gar nichts, aber immer der möglichen Kritik bei Nichterfüllung der Aufgabe oder bei Fehlern ausgesetzt
Seither hat sich die Ausgangslage geändert, entweder hat Ursula einen neuen Chef oder hat intern den Job gewechselt. Aber Ursula ist immer noch unzufrieden, sie fühlt sich eingeengt und behandelt wie ein kleines Kind. Neuerdings werden ihr – aus ihrer Sicht – alle Arbeitsschritte vorgegeben und überprüft und sie wurde all ihrer Freiheiten beraubt.
Ursula hat im Gespräch mit ihrer Freundin Konsequenzen angekündigt. Ich bin gespannt auf das nächste „gemeinsame Treffen“…
Verantwortung nein danke, Freiheit ja bitte
Die Situation von Ursula ist für mich der Aufhänger, für diesen Beitrag, der sich mit persönlicher Freiheit und Verantwortung sowie dem Ausbruch aus dem Überwachungskreislauf befasst.
Im (Berufs-) Leben gehören die persönliche Freiheit und die Übernahme von Verantwortung unweigerlich zusammen. Nicht umsonst wird bei jeder Jobbeschreibung darauf geachtet, dass die AKV – die Aufgaben, die Kompetenzen und die übernommene Verantwortung – korrespondieren. Was ansonsten passiert?
Die Variante „Freiheit ohne Verantwortung“ tönt für die betroffene Person zumindest kurzfristig sehr erstrebenswert, aber ich denke wir sind uns einig darin, dass das nicht wirklich das Zukunftsmodell sein kann.
Die Variante „Verantwortung ohne Freiheit“ führt unweigerlich zu Stress. Den Kopf dafür hinzuhalten, für das was andere verbockt haben, macht niemandem Spass. Für jeden Freiheitsliebenden, der keine Verantwortung zu übernehmen bereit ist, braucht es zumindest einen Sündenbock gemäss dieser zweiten Variante.
Wenn in Deinem Unternehmen die Variante „keine Freiheit und keine Verantwortung“ als Standard gelebt wird, dann landest Du früher oder später automatisch beim Thema Anforderungen des Arbeitsmarktes ab 2020. Du bist austauschbar, unmündig und unfrei. Aber, wenn Du keine Verantwortung übernehmen willst, ist das Deine einzige berufliche Einsatzmöglichkeit, denn auch in dieser Konstellation sind die Komponenten Freiheit und Verantwortung deckungsgleich in ihrer Ausprägung!
Das bringt uns zu unserem ersten Zwischenfazit: Der einzige Weg für langfristig mehr Freiheit ist das kontinuierliche Übernehmen von mehr Verantwortung. Dabei wird die Frage, „Wer will ich sein?“, zum Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben.
Der Weg zu mehr Freiheit wird von immer mehr Unternehmen unterstützt
Immer mehr Unternehmen erkennen mittlerweile, das der eigene Wunsch nach einer lebendigen, anpassungsfähigen und erfolgreichen Zukunft nur mit Mitarbeitenden zu bewerkstelligen sein wird, die gegenüber dem heutiger Status quo über deutlich mehr Freiraum und Selbstbestimmung verfügen. Der Preis für mich, als davon betroffenem Mitarbeiter? Die Übernahme von Verantwortung. Mehr Freiraum, bedeutet in diesem Fall mehr eigenständige Entscheidungen.
Ich benötige keine falsche Fürsorge meines Arbeitgebers, in dem er mir die Benutzung des Handys ausserhalb der Arbeitszeit verbietet, den Mail-Server abends abschaltet, oder mir die Benutzung von Social Media-Seiten nur in der Pause erlaubt. Mein Arbeitgeber braucht mich nicht vor mir selbst zu schützen. Soll ich mit Dankbarkeit und Motivation auf solche, häufig erlebte Vorgehensweisen reagieren? Für mich persönlich ist die Antwort ein klares Nein, denn nur wenn ich mich als Mitarbeiter wie ein mündiger Mensch behandelt fühle, verhalte ich mich auch als solcher. Alles andere endet über kurz oder lang im Dienst nach Vorschrift.
Und wie ticken Du und Dein Unternehmen? Wirst Du von Deiner Firma ebenfalls zu einem Pflichterfüller ohne Freiheit und ohne Verantwortung erzogen? Und falls ja, gefällt Dir das?
Im nächsten Kapitel unternehmen wir einen Erklärungsversuch wie die oft anzutreffende Überwachung am Arbeitsplatz entstanden ist:
Der Überwachungskreislauf am Arbeitsplatz entsteht jeweils nach einem ähnlichen Muster
Der Überwachungskreislauf innerhalb eines Unternehmens entsteht und funktioniert zumeist nach einem einheitlichen Muster. Aufbauend auf einem ursprünglich selbstverantwortlichen Vertrauensverhältnis ohne Regeln entsteht Schritt für Schritt ein Überwachungsapparat:
- Jemand nimmt sich im Vergleich mit seinen „Peers“ deutlich mehr Freiheiten (z. Bsp. in dem er auf Geschäftsreisen immer in 5-Stern-Hotels übernachtet), die von der Gruppe nicht toleriert werden.
- Die Empörung bahnt sich ihren Weg in die Gerüchteküche des Pausenraumes.
- Die zuständige Führungsperson muss zeigen, dass etwas unternommen wird.
- Durch eine Regel wird das entsprechende Verhalten zukünftig untersagt.
- Eingeführte Regeln müssen überwacht werden, was bedeutet, dass zukünftig alle Hotel-Rechnungen aller Mitarbeitenden überprüft werden.
- Es entstehen Situationen, in welchen die getroffenen Regeln, absolut kontraproduktiv sind, beispielsweise, wenn ein Mitarbeiter 2-tägige Verhandlungen in einem Besprechungszimmer eines 5-Stern-Hotels zu führen hat und nach dem gemeinsamen Abendessen für die Übernachtung in ein Hotel mit weniger Sternen fahren muss. Um das Gesicht zu wahren, gibt es eine Sondererlaubnis zur eingeführten Regel, die fixer Bestandteil der Vorschrift wird.
- Je mehr Sonderregelungen und Ausnahmen zur ursprünglichen Regel erstellt werden, desto lustiger macht sich die Belegschaft über Sinn und Zweck der Regel und je aufwendiger und teurer wird die Kontrolle.
- Das Management meldet sich zum Thema und verkündet: Es ist wie es ist, wir können leider nichts unternehmen.
- Die Mitarbeiter haben mit der Zeit keine Lust mehr im Sinn des Unternehmens gegen eine Regel zu verstossen und beginnen mit Dienst nach Vorschrift. Dabei kritisieren sie das Management hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand mit Vorwürfen wie den bürokratischen, zeitfressenden Abläufen, der unklaren Kommunikation und der Tatsache, dass die Vorgesetzten absolut kein Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden haben, da ansonsten kaum jedes Detail geregelt sein müsste.
Einmal in diesem Überwachungs-Kreislauf gefangen, wird der Ausstieg schwierig, aber es gibt dennoch Hoffnung.
Zum Glück gibt es einen Ausweg aus diesem Kreislauf
Die totale Überwachung kann aus einem Unternehmen auch wieder vertrieben werden. Was es dazu benötigt? Mindestens eine mutige Führungsperson, in dessen Unternehmensbereich ein Pilot-Experiment gestartet wird, in welchem gilt: Zurück zum Ursprung. Alle bestehenden Regeln – oder zumindest die unnötigen – werden ausser Kraft gesetzt und die Zusammenarbeit basiert wieder auf Vertrauen. Mit dem Vertrauen in die Entscheidungskraft jedes einzelnen wird der Pilot-Bereich wieder regelfrei. Eine nützliche Feedback-Kultur, regelmässige Reflexion und gegenseitige Achtsamkeit sind dabei die Trümpfe im Kampf gegen den Regel-Dschungel.
Andere Unternehmensbereiche erfahren darüber und schliessen sich dem Experiment an.
Der Prozess zum regelfreien oder regelarmen Betrieb wird dauern, aber als Unternehmen wird man fürstlich belohnt … mit motivierten, mündigen Mitarbeitern, die mitdenken.
Ja, schwarze Schafe wird es auch weiterhin geben, aber es gibt definitiv andere und bessere Möglichkeiten im Umgang mit diesen, als Überwachungsregeln zu erschaffen, unter denen die gesamte Belegschaft zu leiden hat.
Wie so oft gilt … aller Anfang ist schwer. Ein Corporate Unruhestifter kann dabei die Rolle des Türöffners übernehmen
Meines Wissens steht nirgendwo geschrieben, dass Mitarbeitende einer Firma austauschbare Zahnrädchen ohne Freiheit und Verantwortung sein müssen. Das Bild des unmündigen Mitarbeitenden der für alles eine Regel benötigt und vor sich selbst geschützt werden muss, entspricht nicht meiner Wahrnehmung und auch nicht meinem Menschenbild.
Unternehmen, die sich weiterentwickeln wollen, benötigen Störungen des Normalbetriebs. Sei es beim Ausbrechen aus dem Mitarbeiter-Überwachungskreislauf, beim Hinterfragen von Routinen oder „historisch“ gewachsener Zustände. Wer erkennt, dass dieses Hinterfragen vom Status Quo für die zukünftige Entwicklungsfähigkeit eines Unternehmens relevant ist und keinen Hochverrat am Bisherigen darstellt, der kann von Störungen des Normalbetriebes nachhaltig profitieren.
Die offizielle Erlaubnis zum Mitdenken, zur Kritik am Bestehenden, kann die Unternehmenskultur verändern. Ein Corporate Unruhestifter, der über alle Hierarchiestufen hinweg, die Rolle des Störenfriedes übernimmt, kann dabei der Türöffner für die Veränderung der Unternehmenskultur sein.
Veränderung beginnt im Kleinen
Doch zurück zur Geschichte mit Ursula. Als ungewollter „Lauscher“, werde ich mich natürlich nicht einmischen und dennoch bin ich gespannt auf die weitere Entwicklung. Falls Du – liebe Ursula – wider Erwarten meinen Beitrag liest, habe ich Dir folgende Empfehlung:
Im Berufsleben gehören die persönliche Freiheit und die Übernahme von Verantwortung unweigerlich zusammen. Die Antwort auf die Frage, wer Du sein willst, wird Dir Deinen Weg zu mehr Freiheit und Verantwortung zeigen. Aber denke daran, Veränderung braucht Zeit.
Und als Denkanstoss für Deinen Chef und alle übrigen Führungspersönlichkeiten: Wahre Führung bedeutet, seine Mitarbeitenden zu begleiten, ohne sie dabei in ihrer Entfaltung einzuschränken, sie aber gleichzeitig nicht alleine im Regen stehen zu lassen.
Und wie sieht es mit Dir aus, lieber Leser, wie viel Verantwortung bist Du bereit zu übernehmen?
Herzliche Grüsse und eine gute Woche
Pascal
Wie würde ein Corporate Unruhestifter mit denen Mitarbeitern umgehen, die die Regeln bis an die Schmerzgrenze ausloten resp. die sich so verhalten, dass Regeln notwendig werden?
Ich stelle bei meinem Arbeitgeber fest, dass viel Zeit für „ass-covering“ verwendet wird. Niemand will Schuld sein, weil niemand Verantwortung übernehmen will. Ein solches Vorgehen wirkt für mich ineffizient und die Entscheidungsfindung gestaltet sich entsprechend schwierig. Gibt es einen Weg in dem ich, unterste Stufe, darauf Einfluss nehmen kann?
Als Corporate Unruhestifter würde ich der Führungsperson empfehlen, zuerst einmal gar nichts zu tun. Aus meiner Sicht gilt, lieber ein schwarzes Schaf, als eine neue Regel / Vorschrift – unter der alle Mitarbeiter zu leiden und die einzig und allein wegen des „Überborders“ notwendig wird.
In meiner Wahrnehmung sind die meisten Regeln „nur“ institutionalisiertes Misstrauen gegenüber den Mitarbeitenden. Anstelle der Regel / Vorschrift wäre meiner nach das Vertrauen auf den sozialen Druck erstrebenswerter. Beginnend bei der Empörung der Kollegen bis hin zur Trennung vom Mitarbeiter, gibt es unzählige Nuancen der „Erziehung“. Lieber einer leidet, als alle!
Tönt danach, als ob die vorgestellten Varianten 1 – 3 sehr ausgeprägt vorhanden sind in Deinem Unternehmen. Ich denke, wirklich Einfluss auf das Zusammenspiel zwischen Freiheit und Verantwortung kannst Du – so lange Du keine Führungsposition hast – nur für Dich übernehmen. Ansonsten wären aus meiner Sicht aussagekräftige Jobbeschreibung mit tatsächlich gelebten AKV’s eine gute Grundlage. Gehe mit gutem Beispiel voran, dann kannst Du eher das entsprechende Verhalten gegenüber Deinen „Peers“ bei Deinem Vorgesetzten einfordern. Macht das aus Deiner Sicht Sinn?